1. Die Hetäre Phryne nackt vor ihren Richtern


    Datum: 12.03.2022, Kategorien: CMNF Autor: baer66

    ... Gesicht des in der ersten Reihe in der Mitte stehenden alten, graubärtigen Mannes in der roten Toga ab. Im ausgemergelten Antlitz eines anderen, wohl noch älteren, dessen Hände kraftlos im Schoß ruhen, blitzt die entsagungsvolle Erinnerung an frühere Freuden auf. Die Züge Jüngerer spiegeln schiere Fassungslosigkeit, andächtige Anbetung oder gar angstvolles Zurückweichen, fast so, als sei soeben der Wahrhaftige selbst mit Blitz und Donner erschienen. Das vom Wohlleben gerundete Gesicht eines beleibten Mannes mittleren Alters verrät hingegen dionysische Lüsternheit, und die verzerrte Fratze eines weiteren ist von abschätziger, ja aggressiver Geilheit entstellt."
    
    R. folgt der Aufforderung seines Professors und sieht sich die erregten Richter an. M. vergleicht jedoch in Gedanken die entkleidete Phryne mit der angehimmelten Kollegin P. Wie sie wohl nackt vor dem Areopag wirken würde?
    
    Professor Fugger fährt mit seinen Erläuterungen fort:
    
    "Alle tragen die gleiche rote Toga wie der graubärtige Alte, dessen ungläubiger Bewunderung etwas Dümmliches innewohnt. Denn sie alle sind Richter im antiken Areopag. Ihre Blicke sind auf eine Frau gerichtet, auf die wegen Gotteslästerung angeklagte Hetäre Phryne, die in eben diesem Moment, da ihr Geliebter und Verteidiger Hypereides mit einer einzigen schwungvollen Bewegung das wallende blaue Gewand von ihrem vollendeten Körper reißt, nackt vor ihnen steht. Nur einer kann sie ironischerweise nicht sehen, der Ankläger, dem das ...
    ... Gewand wie ein Vorhang den Blick verdeckt und ihn fast im Dunkeln verschwinden läßt, während Phrynes Leib im hellen Licht erstrahlt. Nur ihr Kopf liegt im Schatten ihrer Arme, die sie sich schützend vor Gesicht und Augen geschlagen hat, während ihr Körper, der in hoch aufgerichteter Haltung die Reize der Hüften und Brüste betont, den Blicken der Männer ausgesetzt ist."
    
    Jetzt interessiert sich auch R. mehr für die nackte Hetäre als für ihre Richter. P. errötet, versucht aber ihre Verlegenheit zu überspielen und fragt: "Wieso ist dieses romantische Bild eigentlich so berühmt? Offenbar interessieren sich ja nicht nur Juristen dafür."
    
    "Wohl kaum je sonst wurde Nacktheit in ihrer geschlechtsspezifischen Codierung derart prototypisch inszeniert, wie in dem Gemälde "Phryne vor den Richtern" aus der Hand des Künstlers Jean Léon Gérôme.", doziert Professor Fugger weiter, "Das Gemälde gilt unter Kunsthistorikern gerade als die Begründungsszene der Evidenz der Nacktheit."
    
    P., R. und M. ziehen sich mit ihren Unterlagen in den Seminarraum des Instituts zurück und beginnen mit ihren Vorbereitungen.
    
    "Gotteslästerung, 'Asebie', das war doch das Killerargument im alten Athen, oder?", meint R. "Auch Sokrates ist deswegen zum Tod verurteilt worden." "Ganz genau!", antwortet P. "Aber was wird Phryne eigentlich konkret vorgeworfen? Und was bedeutet der Name dieses schönen Mädchens?"
    
    "Hier, ich habs", ruft M. "Der Grammatiker Kallistratos berichtet folgendes, zitiert Athenaios im ...
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