Ausweglos - Teil 3
Datum: 05.04.2021,
Kategorien:
Schamsituation
Autor: nina44
... Pfirsichstücken sowie den zerstoßenen Walnüssen eingehen, strukturiere ich in Gedanken den heutigen vorlesungsfreien Tag. Ich werde mich verausgaben, um mit körperlicher Brachialität den im Kopf sitzenden Feind zu bekämpfen. Also nach dem Frühstück Contessa besteigen, langsam aufwärmen, stadtauswärts – 150 Kilometer müssen es heute werden. Mindestens. Und 150 Kilometer am Limit. Vielleicht schaue ich auf dem Rückweg kurz auf dem Gestüt in Dornstadt vorbei. Meine dort untergestellte Stute Cordula wird sich freuen – ich war seit drei Tagen nicht mehr bei ihr. Als ich den in die Briefe durchgehe stockt plötzlich mein Atem. Ein Umschlag. Dieselbe Farbe. Dieselbe Größe. Der computergeschriebene Adressaufkleber identisch. Fester Inhalt. Kleiner fester Inhalt. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich den Würgereflex unter Kontrolle bekomme. Tief einatmen. Wegwerfen? Erst am Abend öffnen?
Einatmen, der kalte Edelstahl des Brieföffners durchtrennt mit glattem Schnitt das Papier. Ein Fotoabzug, leicht verbleicht wie der gestrige. Der heutige zeigt mich. Uniform, diesmal die der Thälmannpioniere. Tanzstange an die Scham gedrückt, ein blauer 100 DM-Schein hängt aus dem roten Seidenslip. Das Foto gleitet aus meiner Hand. Und ich zucke zusammen als ein mit der Nummer 66 versehener Schlüssel aus dem Umschlag fällt. Daran ein kleiner Zettel: „Schließfachanlage Hauptbahnhof – Abholung bis 7. Oktober 11:30 – Bei Nichterfüllung Verteiler für alle Fotos samt Erläuterung des Zustandekommens: ...
... 1. Präsident der Uni Ulm, 2. Kanzler der Uni Ulm, 3. Personalrat der Uni Ulm, 4. AStA der Uni Ulm, 5. Sekretariat Prof. Dr. Nina Meier – persönlich z.H. Frau Mandy Kreinhagen, 6. Isabella Kronschmidt, 7. Gestüt Dornstadt, 8. Radsportclub Ulm e.V.; 9. Subaru-Autohaus Neu Ulm, 10. Elvira Meier.“
Es dauert Minuten, bis ich verarbeitet habe, dass der Verteiler meine Welt umfasst. Meine kleine hart erarbeite heile Welt. Meine fragile Welt. Jede maßgebliche Stelle der Uni, meine einzige wirkliche Freundin hier in Ulm, alle Leute mit denen ich meine Freizeit verbringe. Und meine Mutter, meine Mutter, MEINE MUTTER!!! Die Liste hätte keine sensibleren Adressaten enthalten können. Einzig Position 9 kann ich nicht nachvollziehen – genauso gut hätte dort auch der Bäcker von nebenan oder mein Friseursalon stehen können. Ansonsten ist der Umschlag leer.
Meine Tagesplanung ist natürlich dahin. Wie ferngesteuert dusche ich. Ziehe mich an, Jeans, Bluse, leichte Jacke. Mein Kopf scheint von Watte ausgefüllt. Ich bemerke nicht bewusst, wie ich mir Contessa auf die Schulter schiebe und die Treppe heruntertrage. Den Weg zum Bahnhof nimmt das Rad automatisch. Immer wieder greife ich in meine Hosentasche, um zu fühle, ob der Schließfachschlüssel noch da ist. Verteiler – 1 …, 2. …9. Elvira Meier. Verdammt schreie ich. Der Mitfünfziger, der an der Ampel neben mir auf das Grünsignal für die Radler wartet schaut mich erschrocken an. Weiter. Feste Tritte, keinerlei Belastung für mich.
Ulm ist ...