1. Der Cassandra Komplex


    Datum: 24.08.2023, Kategorien: Romantisch Autor: postpartem

    ... unangenehm. Warum?
    
    "Ja, du weißt noch wenig von mir, das wird sich in den nächsten Tagen und Wochen sicher ändern. Vielleicht kurz als Steckbrief, ich bin sechsunddreißig Jahre alt, hatte ein Medizinstudium begonnen und nach dem dritten Semester abgebrochen und bin dann auf die Physiotherapie ausgewichen. Ich hatte mehrere längere Beziehungen vor meiner Ehe, von denen zwei richtig übel endeten. Mit Männern hatte ich also bislang nicht wirklich Glück. Bei Jonas hatte ich das Gefühl, er ist der Richtige für mich. Dass er mich so nach Strich und Faden verarscht... und vor allem mit wem, hätte ich ihm nicht mal zugetraut. Also könnte man als mögliche Charaktereigenschaft eine gewisse Blauäugigkeit annehmen... egal, ansonsten bin ich sicher ein sehr umgänglicher Mensch, ich lache gern und genieße gern das Leben in vollen Zügen. Ich bin auch ein sehr taktiler Mensch", schloss sie, legte den Arm um meine Schulter und küsste mich auf die Wange. "Und dir schrecklich dankbar, dass du mich aus dieser unmöglichen Wohnsituation gerettet hast."
    
    Wenn sie vorher mit ihrer Einschätzung deutlich danebengelegen hatte, nun war ich durch ihre Nähe tatsächlich stocksteif gefroren. Sie löste ihren Arm unerträglich langsam.
    
    "Ehm... das war... selbstverständlich. Und ja, wir werden uns sicher bald besser kennenlernen und verstehen", brachte ich mühsam hervor.
    
    Sie schien auf ähnliche Statements meinerseits zu warten, aber ich war unfähig in meiner Verwirrung irgendetwas zu formulieren. ...
    ... Das schien sie zumindest zu erahnen, denn sie setzte nicht nach.
    
    "Gut, es war ein langer, anstrengender Tag", meinte sie nach einem kurzen Blick auf ihr Handy. "Es ist zwar noch vor 23:07 Uhr, aber ich werde mich dann langsam zurückziehen, ein paar Sachen muss ich schon noch auspacken..."
    
    "Natürlich, selbstverständlich", brabbelte ich, erleichtert über das vorläufige Ende der Inquisition.
    
    Obwohl ich einige Zeit zum Einschlafen gebraucht hatte, wachte ich sogar noch vor sechs auf. Es war still in der Wohnung, also konnten es nicht Geräusche gewesen sein, die sie gemacht hatte. Die Wohnung war insgesamt ziemlich hellhörig, was während der Pflege meiner Mutter sehr hilfreich gewesen war, nun aber vielleicht ein Problem werden konnte.
    
    An Lärminstrumenten war mir während ihres Umzugs allerdings außer einer diese Mikro-Anlagen nichts aufgefallen, insofern war ich schon etwas beruhigt. Das war ich insgesamt. Gut, an ihren etwas merkwürdigen Sinn für Humor und vieles andere, wie beispielsweise ihre "taktile" Ausrichtung, würde ich mich sicher gewöhnen müssen. Aber können. Ihre Aussage, ein umgänglicher Mensch zu sein, konnte ich fast schon zu diesem Zeitpunkt unterschreiben.
    
    Gut, sie war kein Mann, aber sie machte den Eindruck, dass man sich mit ihr arrangieren konnte. Sogar kommunizieren. Immerhin redete sie nicht ausschließlich in Sinnsprüchen. Intelligent war sie zweifellos, ihre Achillesferse war vermutlich ihre Emotionalität. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ihr ...
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