1. Der Cassandra Komplex


    Datum: 24.08.2023, Kategorien: Romantisch Autor: postpartem

    ... sich achtzig Jahre definiert hatte. Ich hatte immer gewusst, dass ich dort enden würde, hatte nie eine andere Karriere außer dem Bund geplant gehabt.
    
    Warum auch? Bücher sind für die Ewigkeit. Hatte ich geglaubt. Gelesen wird immer. Ja, toll. E-Books las man heute. Wenn überhaupt. Natürlich gab es auch jetzt noch Bibliophile, die bei dem Anblick der echten Kostbarkeiten, die ebenfalls noch in unserem Laden zu finden waren, eine Erektion bekamen. Von denen verkaufte man im Monat vielleicht eins, höchstens zwei.
    
    Der Rest waren Standard-Ausgaben, Kinderbücher, Bildbände, Schundromane, wissenschaftliche Literatur und Studienmaterialen wegen der nahen Uni. Ich hielt mein Einkommensniveau nahezu konstant. Aber eben nahezu konstant niedrig. Und jetzt?
    
    Doch eine andere Wohnung suchen? Hier in der Gegend war das alles andere als einfach. Weiter weg wollte ich wegen der Nähe des Ladens nicht. Ja, die Wohnung war für mich alleine jetzt zu groß, seitdem meine Mutter nicht mehr lebte. Und wenn ich... mir einen Untermieter suchte?
    
    Hm. Das könnte funktionieren. Mutters Zimmer war groß genug. Ich könnte es sogar möbliert anbieten. Vielleicht an einen netten, älteren Herrn vermieten. Bloß keine Studenten. Bloß keine Frauen. Ja, damit könnte ich leben. Das war eine Lösung.
    
    Und wo anbieten? Annoncen in Zeitungen waren sicher nicht günstig, und wer las denn heutzutage noch Zeitungen? Online, alle machten alles nur noch im Internet. Ich hatte nicht einmal einen ...
    ... Computer. Ich konnte die Vorteile und Möglichkeiten nachvollziehen, aber es hatte mich nie persönlich interessiert.
    
    Ich hatte ein Handy, aber das war nicht einmal eins dieser modernen Smartphones. Man konnte damit telefonieren und Texte schreiben, wobei ich letztere Option noch nie genutzt hatte. Fünfundvierzig jetzt, und wahrscheinlich so altmodisch und rückständig wie sonst Siebzigjährige, sollte man meinen.
    
    Das stimmte natürlich nicht. Selbstverständlich hatte ich beim Bund mit Computern gearbeitet. Dort ebenfalls das Internet kennengelernt. Es enthielt sicher Tonnen interessanter Informationen. Aber keine Struktur, keine Regeln, keine Effizienz. Keinen Aufbau, mit dem ich anfreunden konnte.
    
    Ja, vielleicht war ich ein Unikum, weil ich diese Art von Chaos und Anarchie ablehnte. In meinem Laden und in meinem Leben gab es klare, verlässlich Regeln. Alles hatte seinen Platz, alles konnte sofort und ohne Suche gefunden werden. Alles war überschaubar und abrufbar.
    
    Wenn mich ein Kunde nach einem Buch fragte, wusste ich, ob ich es hatte oder nicht, ohne nachschauen zu müssen. Bei den besseren konnte ich auf Anfrage das Druckdatum herbeten, den herausgebenden Verlag, die wievielte Auflage es war. Nur beeindruckte das heutzutage niemanden mehr. Heute erntete ich nur Verblüffung, wenn ich zugab, potentielle Kunden, insbesondere Studenten, nicht über die Ankunft des Gewünschten per E-Mail informieren zu können, weil ich keine hatte. Was gab es denn im Internet schon so ...