1. Der Cassandra Komplex


    Datum: 24.08.2023, Kategorien: Romantisch Autor: postpartem

    ... für mich erklärte, in einem eigenartigen Moment vollständiger, non-rationaler Klarheit. Claudia sah mich überrascht an und nickte. Sie hatte es verstanden.
    
    Obwohl wir uns ausgiebig unterhielten, waren es auch und gerade Momente wie dieser, die den Spaziergang zu einem fantastischen Erlebnis machten. Wir mussten gegen Ende einem nach starken Regenfällen in der Nacht überschwemmten Weg durch die Besteigung eines kleinen Hügels ausweichen, rasten ihn anschließend Hand in Hand wie übermütige Kinder wieder herunter.
    
    Rutschten natürlich bei unserer hohen Geschwindigkeit auf dem nassen Gras aus und fielen gemeinschaftlich in Pfützen und Matsch, wo wir dann nun ohnehin völlig verdreckt ineinander verklammert herumrollten, bis wir anstatt nur nasse Füße zu bekommen, den Heimweg schließlich völlig durchnässt und wie nach einer Schlammschlacht antreten mussten.
    
    Bleibt zu erwähnen, dass ich bei dieser Gelegenheit den beim Frühstück angekündigten dritten Kuss bekam, während wir auf dem nassen Boden lagen, der bis dato intensivstete und längste von ihnen, zudem deutlich der Erregendste davon. Beim Bund hatte ich oft genug im Dreck gelegen, die Erektion dabei war allerdings ein Novum.
    
    Diesmal war es Claudia, die bei unser Rückkehr meinte, wir sollten am besten duschen, dies aber vielleicht doch besser getrennt tun, weil sie sich solch einem Test ihrer Selbstkontrolle, in der momentanen Stimmung und nach allem, was in den letzten Tagen und an diesem geschehen war, nicht ...
    ... gewachsen fühlte. Ich beeilte mich ihr zuzustimmen, das war rational sicher absolut richtig.
    
    Der Funkenflug war schon beeindruckend genug, es musste ja nicht gleich in einen Flächenbrand ausarten. Seligmachend war die Beantwortung meiner Fragen des Frühstücks ohnehin. Es gab keinerlei Zweifel mehr, sie fand mich attraktiv, als Mensch und als Mann. Sie war dabei, sich in mich zu verlieben. Und ich mich in sie.
    
    "Wachsen lassen, was wachsen will", hatte sie gesagt. Und damit im Grunde die Antwort ihrer Namensvetterin positiv umformuliert. Liebe wächst, aus sich heraus, aus dem Vertrauen in und dem echten Erkennen und Verstehen des anderen. Sie lässt sich nicht erzwingen. Nicht forcieren, nicht beschleunigen, aber auch nicht wirklich sublimieren.
    
    Und, das hatte ich bei Maslow glaube ich damals gelesen, sie setzte etwas anderes darüber hinaus voraus. Dass man in der Lage war, sich selbst zu lieben. Also jetzt nicht autoerotisch, oder narzisstisch. Also wiederum, erkennen, verstehen, vertrauen. Nichts ausklammern, nichts verdrängen, verstecken, um einem illusorischen Selbstbild zu entsprechen. Die negativen wie die positiven Seiten, das reale Ich. Sich annehmen, so, wie man war.
    
    Jetzt machte auf einmal alles Sinn. Während wir bei einer guten Tasse Tee mit Rum auf dem Sofa saßen und tatsächlich mit der Lektüre unserer ersten gegenseitigen Empfehlungen begonnen hatten, dabei klassische Musik aus dem Radio hörten, gab ich ihr in einer kurzen Lesepause den Stand meiner Überlegungen ...
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