Der Cassandra Komplex
Datum: 24.08.2023,
Kategorien:
Romantisch
Autor: postpartem
... die immer noch patriarchalisch ist, machen wir uns trotz der Fortschritte in der Emanzipation doch nichts vor. Die gedankliche Ausrichtung hat sich noch in keiner Weise verschoben, die Überbetonung des Rationalen und männlicher Werte führt in meinen Augen zu vielen von den Problemen, mit denen wir uns alle konfrontiert sehen."
"Absolut."
"Äh, was? Du stimmst mir zu?"
"Vorbehaltlos. Auch wenn ich die Hoffnung habe, dass die Entwicklung sich noch rechtzeitig in die richtige Richtung beschleunigt, zu dem Ergebnis war ich schon vor mehr als zwanzig Jahren gekommen. All meine Lebenserfahrung hat diese Einsicht zementiert."
"Aber... also gut, dann lass uns jetzt darüber sprechen. Warum Bundeswehr? Warum hast du dich zum Töten und zur Gewalt ausbilden lassen? Ist das nicht ein fundamentaler Widerspruch zu deinen Erkenntnissen und dem, was ich sonst von dir und deiner Persönlichkeit wahrgenommen habe?"
"Ja, das muss so erscheinen. Mein Verhältnis dazu war von jeher ambivalent. Bevor ich eingezogen wurde, hatte ich ernsthaft daran gedacht, den Wehrdienst zu verweigern. Ich wusste nicht wirklich, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, von dem ich wusste, dass es irgendwann im Laden meiner Eltern enden würde. Ich hatte überlegt, ob ich Philosophie studiere, oder Germanistik, aber mir war unklar, wie ich davon danach meinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Als Lehrer oder Dozent habe ich mich nie gesehen. Zudem habe ich lange darüber nachgedacht, ob es ehrlich ...
... wäre, wenn ich sagen würde, dass ich nicht bereit wäre, andere vor Leid und Tod notfalls mit der Waffe in der Hand zu schützen. Ich kam zu einem klaren Nein. Also habe ich mich zum Grundwehrdienst eingefunden. Und schaffte mir so noch eine Gnadenfrist, um darüber nachzudenken, was ich beruflich machen könnte."
"Du hast dich erst nach dem Grundwehrdienst dazu entschlossen, Berufssoldat zu werden?"
"Nein, schon während. Es hing damit zusammen, dass ich schon in dieser Zeit in den Stab kam. Und mich dort wohlgefühlt habe, ein Talent für das hatte, was ich tat. Und Männern begegnet bin, die ich dort nicht erwartet hatte. Männer mit Format, von höchster moralischer Integrität. Einer von ihnen hat mir mal gesagt, solange es Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen gibt, braucht es eine Armee. Und in dieser Armee Menschen mit Charakter, die die richtigen Befehle geben oder die falschen verweigern. Die nicht nur eine anfällige und wandelbare Idee eines politischen und geographischen Konstrukts verteidigen, sondern zunächst und zuvörderst die Menschen, die ihnen anvertraut sind. Sein Großvater hatte das getan und ist dafür hingerichtet worden, weil er am Attentat an Hitler beteiligt gewesen war."
"Und das hat dich beeindruckt."
"Es hat nur das zusammengefasst, was ich ebenfalls so empfunden hatte. Als er mir dies sagte, war ich längst Berufssoldat. Es hatte ja auch anfänglich mehr den Charakter einer imaginären Landesverteidigung und humanitärer Einsätze. Eine Routine von ...