1. Joes kleine Meerjungfrau


    Datum: 12.07.2019, Kategorien: Sonstige, Autor: Dingo666

    ... nahm er die schlaffe Gestalt und drehte sie um. Eine Frau. Leichenblass. Ein langer Riss zog sich über die linke Schläfe, doch Blut war kaum zu sehen. War sie etwa schon tot? Von ihm achtlos erschlagen?
    
    Eine Welle klatschte über sie hinweg. Joe spürte ein leises Zucken in ihrem Körper. Sofort schob er alle Fragen nach Herkunft oder Schuld beiseite - in Krisenzeiten war dafür kein Platz, weder an der Börse noch auf See. Er umfasste die Unbekannte, hielt ihr das Gesicht über Wasser, und schwamm in Richtung Strand. Die auflaufende See unterstütze ihn diesmal.
    
    Nach zehn Minuten zähen Ringens mit den Wellen spürte er Boden unter den Knien, er schürfte über Steinchen und Sand. Erleichtert kroch er auf allen vieren weiter den Strand hoch. Beziehungsweise auf allen Dreien - einen Arm hielt er eisern um die schlaffe Gestalt geschlungen. Dann, als auch die stärksten Wellen sie nicht mehr erreichten, ließ er die Fremde in den Sand sinken. Er sank stöhnend auf den Rücken, pumpte Sauerstoff in seine Lungen, in schnellen, harten Atemzügen. Das Pochen in seinem Bein hatte sich in einen schwarzen, wühlenden Dauerschmerz verwandelt.
    
    Ein schrilles Knistern und Knallen ließ ihn den Kopf heben. Sein Boot, jetzt befreit, neigte sich bei der einsetzenden Ebbe langsam Richtung Meer. Die Steinzacken zerdrückten den weißen Fiberglasrumpf zu länglichen Splittern, und das Wrack sackte tiefer, glitt langsam unter die Wasseroberfläche. Bald würde es ganz verschwunden sein.
    
    "Fahr doch zur ...
    ... Hölle, du Schrotthaufen", murmelte er. Die Wut verlieh ihm neue Kraft, und er stemmte sich hoch.
    
    "Was zum...?"
    
    Er spürte, wie sein Unterkiefer herabsank. Eine Sinnestäuschung? Ein Scherz? Hielt jemand eine versteckte Kamera auf ihn gerichtet?
    
    Neben ihm lag eine junge Frau. Nackt. Ab der Hüfte ging ihr Körper in eine elegante Fischform über. Ein langer Schwanz, der in einer überraschend kleinen Doppelflosse endete. Keine Schuppen, sondern Haut. In einem irisierenden Grünblau.
    
    Er schüttelte den Kopf, blinzelte. Das änderte jedoch nichts an dem unmöglichen Bild vor ihm.
    
    "Eine - eine verfickte Seejungfrau?", flüsterte er. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte er den Mast beim Hochschnalzen direkt vor den Schädel gekriegt.
    
    Wie hypnotisiert streckte er den Arm aus, tippte gegen die Hüfte. Spürte kühles, festes Fleisch. Jeder aufkeimende Gedanken an eine Hülle über normalen, menschlichen Beinen verflüchtigte sich sofort. Das fühlte sich verdammt echt an.
    
    Unlösbare Fragen und Rätsel gehörten ebenfalls zu den Dingen, die man getrost beiseitelegen und auf später verschieben konnte. Er akzeptierte vorläufig, was er sah.
    
    Das Radargerät hatte das Wesen am Kopf erwischt. Wahrscheinlich war es deshalb auch bewusstlos. Obwohl: kein es, eine sie. Auf den ersten Blick war die Kreatur als weiblich zu erkennen. Zwei erstaunlich großvolumige Brüste saßen an einem schmalen, drahtig-schlank geformten Oberkörper. Der rechte Unterarm wies einen Knick auf, der eindeutig nicht ...
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