1. Dr. Jekyll und Heidi Teil 01


    Datum: 24.11.2019, Kategorien: Romane und Kurzromane, Autor: byRomeoReloaded

    ... mir. Wir sprachen über ihr Studium und unsere Lieblingsromane. Manchmal gingen wir zusammen zur U-Bahn, und nach einer Weile kam sie auch dann mit unter meinen Schirm und hakte sich unter, wenn sie einen eigenen Schirm mitgebracht hatte.
    
    Schließlich erzählte ich ihr vom Festival der „Poesie durch die Jahrhunderte".
    
    „Wo soll das stattfinden?", fragte sie. Ich nannte ihr den Namen der Stadt.
    
    „Da habe ich eine Tante, bei der ich übernachten kann", sinnierte sie.
    
    „Dann komm doch mit."
    
    „Du fährst hin?"
    
    „Wenn du dabei bist, ja."
    
    Wieder sah sie mir tief in die Augen. Ich wartete. Wonach auch immer sie gesucht, was auch immer sie in meinen Augen gefunden haben mochte, es entlockte ihr ein geheimnisvolles Lächeln. „Lass uns hinfahren", entschied sie.
    
    Kurz vor dem Festival besserte sich das Wetter wie auf Bestellung. Ich hatte ein Hotel gebucht, sie sich bei ihrer Tante einquartiert, und so fuhren wir bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel über Land. Ihre Stimmung war von Anfang an großartig, schon im Auto redete sie ununterbrochen. Sie sah hinreißend aus in ihrer engen weißen Hose und der leuchtend blauen Bluse mit sehr weit geschnittenen kurzen Ärmeln. Ich ertappte mich bei dem Versuch, von der Seite durch die Ärmel einen Blick auf ihre kleinen Brüste zu erhaschen.
    
    Bei ihrer Tante setzte ich sie ab, checkte rasch im Hotel ein, dann wir trafen uns auf dem Festivalgelände. In verschiedenen Räumen, die jeweils bestimmten Epochen zugeordnet waren, wurde ...
    ... Lyrik vorgetragen und besprochen.
    
    Heidi wollte ständig die Räume wechseln, von allem etwas mitbekommen, und so hörten wir Klassiker und Modernes, waren einer Meinung oder diskutierten hitzig über die Vorzüge und Schwächen der Dichter. Als Letztes gönnten wir uns die Werke der Romantiker, bevor wir den Abend bei einer Flasche Wein auf der Terrasse vor dem Festsaal ausklingen ließen.
    
    Die Nacht war lau, Mond und Sterne prangten am blauschwarzen Himmel.
    
    „Auf das Gute, Schöne, Wahre", prostete Heidi gut gelaunt dem Mond und mir zu.
    
    „Das bringt das Wesen der Romantik auf den Punkt, findest du nicht?", fragte ich.
    
    „Wie meinst du das?"
    
    „Dieser Dreiklang. Der feste Glaube, dass hinter dem Schönen auch immer etwas steckt, dass gut und wahr ist. Die Romantiker würden diesen Nachthimmel sehen, und seine Schönheit wäre ihnen ein Zeichen, dass Gottes Güte uns wahrhaftig umfangen hält. Sie wären unendlich enttäuscht, wenn man sie mit einer Rakete hinaufschösse und sie in der eisigen Leere des Weltalls erfrieren müssten."
    
    Sie saß schweigend da, ohne sich zu rühren. In der Dunkelheit konnte ich ihren Gesichtsausdruck nicht ergründen.
    
    „Darüber habe ich noch nie nachgedacht", sagte sie schließlich, „man sagt das doch so, als gehöre es unverbrüchlich zusammen."
    
    Ich schüttelte den Kopf. „Schönheit ist eine ästhetische Kategorie, Gut oder Böse eine Moralische. Und wahr ist, was tatsächlich der Fall ist, ohne es schön zu reden. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. ...
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