1. Rucksacktouren


    Datum: 21.06.2020, Kategorien: 1 auf 1, Autor: Herweg

    ... Eindruck. Auffällig war auf den ersten Blick ihre Frisur. Die blau-schwarzen Haare waren an den Seiten völlig abrasiert und auf dem Kopf hatte sie einen Bürstenschnitt. In der linken Augenbraue, dem rechten Mundwinkel und unter der Nase hatte sie Piercings. Abgesehen davon hatte sie eine stattliche Sammlung an Ringen und Steckern in den Ohren. Ihre Kleidung bestand aus einer braun-schwarzen Cargohose, einem dunklen Sweatshirt mit Rippenmuster und unklarer Ursprungsfarbe und einem Batik-T-Shirt darunter. Die Schuhe waren von Dr. Martens. Ihr Gesicht war verheult und dreckig. Jetzt bückte sie sich wieder nach ihrem Rucksack und zog ihn mit großer Kraftanstrengung in eine stehende Position. Unschlüssig stand ich ca. drei Schritte von ihr entfernt und muss sie recht fassungslos angestarrt haben. Denn plötzlich sagte sie: "Was is Alter, noch nie jemand wandern gesehen?" Das war zuviel für mich und ich konnte es mir nicht verkneifen zynisch zu antworten: "Doch schon. Aber jemand wie Sie ist mir dabei noch nicht begegnet. Und wandern würde ich das nicht nennen." Es kam als Antwort nur ein "Leck mich, Alter."
    
    Mit einem Ruck versuchte sie den Rucksack anzuheben und zu schultern, aber es war zu sehen, wie ihr die Kraft ausging und sie zu taumeln begann. Mit beiden Händen griff ich den Rucksack und es kostete mich alle Kraft, ihn zu stabilisieren und gehalten zu bekommen ohne selbst zu stolpern. Endlich hatte die Frau die Gurte über die Schultern gezogen und wurde sogleich von ...
    ... dem Gewicht in eine gebeugte Position nach vorn gedrückt. Jetzt kam ein kurzes, gepresstes "Danke, Alter". Dann ging sie einfach los. Wobei 'gehen' die falsche Bezeichnung war. Es war eher ein mühsames schleppen und bei jedem Schritt war zu erkennen, wie sie versuchte, nicht wieder ins Taumeln zu geraten.
    
    Ich stand noch immer an der gleichen Stelle und schaute ihr fassungslos nach. Es war eigentlich eine völlig schräge Szene. Mitten auf einem einsamen Waldpfad schleppte sich eine Frau mit einem viel zu schweren Rucksack ab, war offensichtlich an der Grenze zur Erschöpfung und lehnte Hilfe barsch ab. Nachdem ich ihr so einige Sekunden nachgeschaut hatte, setzte ich meinen Rucksack ab, nahm meine Trinkflasche heraus und trank etwas Wasser und aß ein Stück Schokolade. Wie die meisten Menschen liebe ich Schokolade und beim Wandern gehört sie für mich zur Grundausstattung. Sie macht glücklich und liefert schnell Energie.
    
    Nach dieser kurzen Pause dauerte es aber nicht lang, bis ich die Frau wieder eingeholt hatte. Auf dem schmalen Pfad gab es keine Möglichkeit an ihr vorbei zu kommen. Sie schwitzte, war kurzatmig und stolperte immer wieder. Ihre Hände krallten sich in die Tragegurte. Ihre Tritte waren unsicher und als sie drohte abzurutschen, packte ich wieder ihren Rucksack und hielt sie fest. Vermutlich hätte sie mich beschimpft, aber dafür fehlte ihr die Luft. Vorsichtig schob ich sie ein paar Meter weiter, an eine Stelle, wo ich stehen und sie sich gegen den Hang setzten ...
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