1. Ausgrabungen


    Datum: 25.07.2020, Kategorien: Reif Autor: postpartem

    ... nicht wahrgenommen hatte, dass sie aufgestanden war und nun neben mir stand, an meinem Ärmel zupfte, um mich zum Aufstehen zu bewegen. Ich stand echt neben mir und ließ mich willenlos von ihr aus meinem Büro führen.
    
    "Kippe?"
    
    Verblüfft starrte ich auf das Paket Zigaretten, das sie mir hinhielt, ebenso verblüfft, dass wir uns auf der Straße befanden.
    
    "Nein, ich rauche nicht... naja... nicht mehr. Schon seit... seit... tatsächlich, 20 Jahren...", stammelte ich verwirrt.
    
    "Aha", gab sie zurück, zog eine Zigarette heraus, zündete diese an und stopfte sie dann in meinen Mund.
    
    "Wir gehen jetzt was trinken", bestimmte sie, während ich abwesend und gierig an ihrem eigentlich unerwünschten Obolus saugte.
    
    "Aber... das ist doch... es ist doch noch...", setzte ich an, während sie sich bei mir einhakte und jeden weiteren Widerstand mit ihrem entschlossenen Gesichtsausdruck im Keim erstickte.
    
    "Wir können jetzt beide einen zum Runterkommen gebrauchen. Und wenn sich dein professorales Superhirn wieder mit der Realität auseinandersetzen kann, reden wir drüber, wie wir jetzt weiter vorgehen können."
    
    Wohin sie mich genau verschleppte, weiß ich nicht mehr. Dass es eine Kneipe war, die von zahlreichen anderen Studenten frequentiert wurde, die uns mit neugierigen Blicken musterten, merkte ich schon noch. Und dass ihre "Kur" für meine Verwirrung wirkte. Das Runterkommen war dabei nur die Hälfte.
    
    Es war Annalena, die für alles weitere sorgte. Ihre Ruhe, ihr Selbstvertrauen ...
    ... und ihr so unfassbar tiefes Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten, diese Situation für uns und den Dig zu bereinigen, brachte mich ganz schnell wieder auf den Boden der Tatsachen und seiner limitierten, aber durchaus vorhandenen Möglichkeiten zurück.
    
    Zwei Stunden später hielt ich die nächste Vorlesung, zugegebenermaßen nicht völlig nüchtern, aber weitestgehend funktionsfähig und im Anschluss klemmte ich mich für die nächsten drei Stunden ans Telefon, um zu retten, was zu retten war.
    
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    Am Ende butterte ich sogar einen Teil meiner Ersparnisse hinein, aber für die Gruppe reichte es nicht. Es reichte für genau zwei Personen. Da wir zu zweit unmöglich den vorher vereinbarten Bereich der auszugrabenden Villa mit zudem auch weiter reduzierten zusätzlichen Personal bewältigen konnten, traten wir einen Teil der Parzellen an Giselle und ihre französische Gruppe ab, während wir dafür die Zusage erhielten, dass uns welche von ihren Studenten und Assistenten unterstützten, wenn das notwendig war.
    
    Auch Michal von der tschechischen Gruppe sagte seine Hilfe zu, der mit Schwierigkeiten dieser Art aus langer leidvoller Erfahrung nur zu vertraut war. Natürlich fiel es mir schwer, die drei Studenten, die nun zuhause bleiben mussten, zu enttäuschen, aber sie trugen es zumindest in meiner Gegenwart mit Fassung.
    
    Es konnte für sie auch noch nicht so viel bedeuten, wie für mich. Pompeji war für mich der heilige Gral der europäischen Archäologie. Ich war in meiner 40-jährigen Karriere ...
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