1. Der Cassandra Komplex


    Datum: 24.08.2023, Kategorien: Romantisch Autor: postpartem

    ... zum einen war mir dieses Konzept zwar bekannt, aber im höchsten Maße suspekt, zum anderen hatte ich von Trennungen nicht den mindesten Schimmer.
    
    Und auch die Tatsache, dass sie dabei völlig außer Acht ließ, dass ich eventuell nicht nur nicht an Frauen, sondern generell an Durchreisenden nicht interessiert sein könnte, völlig überging, machte mich für einen Moment sprachlos.
    
    "Ehm... das tut mir sehr leid... aber...", setzte ich nach kurzem Räuspern an.
    
    Oh mein Gott, jetzt brach sie auch noch in Tränen aus. So viel zu logischen Argumenten, die nun hätten angebracht werden können. Wie in einem Sprudelglas stiegen Gedanken in meinem Bewusstsein als kleine Blasen nach oben, um dann sofort zu zerplatzen. Dann kam die letztmöglich rettende Idee.
    
    "Beruhigen Sie sich doch bitte. Ehm... ich werde Sie natürlich selbstverständlich in Betracht ziehen. Sie müssten sich doch allerdings erst einmal einen Einblick von dem Zimmer und der daran hängenden Wohnsituation verschaffen, finden Sie nicht? Bevor Sie eine solche Zusage erteilen können?"
    
    "Da haben Sie natürlich Recht. Kann ich es sehen?"
    
    Ah, das beruhigte und deeskalierte für den Moment die Situation.
    
    "Selbstverständlich. Wenn Sie nun wie versprochen kurz auf meine Tüten aufpassen, können wir sicher danach einen Termin vereinbaren", versuchte ich meinen Widerstand aufrechtzuerhalten und zudem an das gegebene Versprechen zu erinnern.
    
    Dass jeder Vermieter die Verlässlichkeit von getroffenen Vereinbarungen schätzt, ...
    ... musste ihr ja selbst in diesem unzweifelhaft desolaten Zustand, in dem sie sich befand, aufgehen.
    
    "Wann, wenn nicht jetzt?", kam ihre schnelle Antwort, während sie sich mit dem Jackenärmel ihre Tränen abwischte. Christa Wolf, wenn das kein Zufallsprodukt war. Und der Knock-Out in der ersten Runde. Verflucht. Frauen.
    
    "Ich bin Claudia", sagte sie dann zu allem Überfluss noch und reichte mir ihre zitternde Hand.
    
    Aha. Die nächste Trägerin dieses Namens, die mir meine schöne Zukunftsplanung mit einem weisen Sinnspruch zerschoss. Nur, dass ich mich diesmal nicht wie ein verwundetes Tier in meine geistigen Höhlen zurückziehen konnte. Diesmal wurde eine direkte, physische Reaktion erwartet.
    
    Zögernd nahm ich ihre Hand.
    
    "Immanuel, lachen Sie bitte nicht. Mein Vater war ein großer Bewunderer dieser Geistesgröße. In meinem Freundeskreis hat sich allerdings Manni eingebürgert." Die Referenz zu Kant würde sie wahrscheinlich nicht einmal verstehen. Oder sie interessierte sie nicht.
    
    "Gut Manni, gib mir eine Minute, dann habe ich das Zeug hier verpackt und wir können los."
    
    Völlig überfahren von der Situation konstatierte ich mit innerlicher Weinerlichkeit, dass sie nicht nur meinen Versuch, mit dem Sie eine gewisse Distanz weiterhin aufrechtzuerhalten, wie auch meinen Wunsch, das Zimmer anderen prospektiven Kandidaten anzubieten, völlig ignorierte.
    
    Sah ihr hilflos zu, wie sie binnen Sekunden die zuvor fahrig und chaotisch wirkende Verpackungsaktion nun methodisch und ...
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