1. Der Cassandra Komplex


    Datum: 24.08.2023, Kategorien: Romantisch Autor: postpartem

    ... gibt es einen Trockenraum im Keller, den alle Mietparteien gemeinsam nutzen."
    
    "Sehr schön, zeigst du mir auch dein Zimmer?"
    
    Warum? Was ging sie das an? Sollte ich ein Chaos vortäuschen und sagen, dass ich mich deshalb schämen würde? Nein, sie war durchtrieben genug, um das im Ansatz sofort zu erkennen.
    
    "Nun, das ist hier. Dann siehst du gleich, warum ich das halbe Zimmer in eine Bibliothek umwandeln möchte", gab ich nach und gewährte ihr einen kurzen Blick in mein Reich, was eindeutig von den überquellenden Bücherwänden dominiert wurde. Und wieder war ihr Fokus ein anderer.
    
    "Eine Schreibmaschine? Oder ist das ein Decoder für irgendwelche Geheimnachrichten, wie es die im zweiten Weltkrieg gab? Sammelst du solche Stücke?"
    
    Ich räusperte mich missbilligend.
    
    "Es ist eine ordinäre Schreibmaschine, elektrisch, nicht besonders laut. Ich sammele so etwas nicht, ich nutze sie. Ich schreibe manchmal", gab ich ihr den wahren Sachverhalt bekannt. Hm, könnte sie meine Rückständigkeit abschrecken?
    
    "Ich habe keinen Computer und nebenbei keine Internetverbindung. Es gibt eine Festnetz-Telefonleitung, die ist meines Wissens aber sogar noch analog", setzte ich sie ins Bild.
    
    "Das ist kein Problem, hier in der Gegend gibt es Kabel, das ist schnell verbunden und von allem das Stabilste. Haben wir seit Jahren", war die lakonische Antwort.
    
    "Ich mache mir nichts aus Fernsehen, schaue höchstens mal Sport...", setzte ich erneut an.
    
    "Da sind wir schon zwei. Mal ein ...
    ... schöner Film, aber den lieber im Kino. Berieselung ist nichts für mich. Ich brauche die Stille, um mich allen Energien zu öffnen", entgegnete sie, während ich ihr das halbe als letztes Zimmer vorführte.
    
    Oh Gott, war sie eine von diesen New-Age Tanten? Das war jetzt auf die Schnelle nicht zu eruieren, aber im Lichte dieses Verdachts sahen ihre Klamotten gefährlich alternativ aus. Ich konnte die Räucherstäbchen und Duftkissen förmlich schon riechen, sah unsere Küche bereits mit Körnern und Samen aufgefüllt.
    
    Küche? Verdammt.
    
    "Ich glaube, wir werden wunderbar miteinander klarkommen", gab sie ihre wohl abschließende Rückmeldung, wie sie sich die nähere Zukunft vorstellte. "Und einander heilen."
    
    Ein Satz, der Vollalarm-Sirenen in meinem Kopf ausgelöst haben würde, wenn sie nicht in diesem Augenblick wieder schrecklich traurig und verloren gewirkt hätte. Sie würde doch nicht wieder zu weinen anfangen?
    
    "Ehm... du hast also eine schlimme Zeit hinter dir? Eine... schmerzhafte Trennung, sagtest du?", versuchte ich Mitgefühl zu zeigen, wohl wissend, dass ich mir damit die letzten Zentimeter in meinem figurativen Grab schaufelte.
    
    "Ja. Ich war acht Jahre verheiratet, um dann herauszufinden, dass mein Mann seit vier Jahren eine Affäre hat."
    
    Das kommt vor, habe ich mir sagen lassen. Die Literatur ist voll davon. Als Betroffene sah man das allerdings wahrscheinlich nicht als den Stoff, aus dem gute Dramen geschneidert wurden.
    
    "Mit meiner jüngeren Schwester", gab sie ...
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