Der Cassandra Komplex
Datum: 24.08.2023,
Kategorien:
Romantisch
Autor: postpartem
... zusätzlichen Einblick in den Hintergrund und die Tiefe ihrer Verzweiflung.
Damit war natürlich die Rückzugsmöglichkeit an den Busen der Familie, die man als Alternative hätte anbringen können, ausgefallen. Verdammt. Ich konnte nicht mehr ablehnen, ohne auch vor mir selbst als Neandertaler zu erscheinen.
"Das ist... ich verstehe. Das musst du erst einmal verarbeiten", hörte ich mich sagen. "Dann verstehe ich auch, warum deine augenblickliche Wohnsituation so unerträglich ist. Gut... wie... denkst du jetzt über die Wohnung und das Zimmer? Ist... der Mietpreis fair? Ich habe überhaupt kein Gefühl dafür, was man so verlangt."
"Total. Wann kann ich einziehen?"
Ein klares, strukturiertes Leben, frei von jeder Unregelmäßigkeit. Verlässlich in seiner Routine. Wegen einer "Fügung des Schicksals" binnen Minuten auf den Kopf gestellt. Nun hatte ich eine Hausgenossin. Und was für eine.
Selbstverständlich half ich ihr bei ihrem Umzug. Schon am nächsten Tag. Ritterlichkeit ist nicht nur eine Tugend, sondern ein Wesenszug des preußischen Offiziers, hatte mein Generalleutnant immer gesagt.
Kein archaisch-deplatzierter Spruch von ihm, er lebte das und verstand sich zurecht so. Eine Ahnenreihe im Offiziersgeschlecht, die hundertsechzig Jahre zurückreichte. Einen Großvater, der seine Haltung und Integrität als Mitwirkender am Attentat an Hitler mit dem Leben bezahlte.
Ihr untreuer Gatte war nicht zugegen. Mitwirkender in einem Drama wurde ich entgegen schlimmer ...
... Befürchtungen meinerseits bei der Abholung ihrer "paar Sachen" also nicht. Obwohl wir dreimal fahren mussten. Sie hatte nicht übertrieben, wer Bücherkisten professional bewegte wie ich, wusste auch ohne Augenschein was sich in vielen ihrer Umzugskisten befand.
Im Verlauf des Tages hatte ich versucht, mich mit dem gerade Geschehenen auseinanderzusetzen. Der Situation das Beste abzugewinnen. Gut, es war kein weiser alter Mann, der mir Denkanstöße und Anekdoten aus dem Fundus seines langen Lebens geben würde. Aber ich hätte nun Gelegenheit, das mir unbekannte Wesen aus nächster Nähe zu studieren, was mir bis dato versagt geblieben war.
Hatte zudem die Möglichkeit, mit jemandem den Alltag zu bestreiten und zu teilen. Wenn ich ehrlich war, fehlte mir das bereits ungemein. Die gemeinsamen Mahlzeiten mit meiner Mutter, die Berichte von unseren kleinen Erfolgen und Niederlagen, oder skurrilen Ereignissen, die an Frequenz und Absurdität immer mehr zuzunehmen schienen.
Die Welt dreht durch, hatte meine Mutter immer wieder gesagt. Kein Wunder, dass uns dabei schwindelig wird. Unsere Weltbilder waren nie deckungsgleich gewesen, aber die gleichen Folgerungen schienen wir trotzdem zu ziehen. Ihr scharfer Verstand fehlte mir. Mein Vater hatte viel gedacht, aber nur wenig davon preisgegeben. Das war bei ihr anders gewesen.
Anpacken konnte sie, das musste man Claudia lassen. Ihre Hilflosigkeit erstreckte sich nur auf ihren prekären emotionalen Zustand. Wie ich ihr hier unter die Arme greifen ...