1. Der Cassandra Komplex


    Datum: 24.08.2023, Kategorien: Romantisch Autor: postpartem

    ... verstehen konnte, sondern mehr, dass ich es gar nicht mehr wollte. Sie als eines von vielen interessanten abstrakten Phänomen beobachten und respektieren konnte, die unsere Welt so schön, aber auch so verwirrend machen.
    
    Meine Mutter hatte mir noch kurz vor ihrem Tod angetragen, ich solle mich doch langsam mal mit dem anderen Geschlecht auseinandersetzen. Und schlug gleich mehrere Kandidatinnen aus unserem Bekanntenkreis vor. Vielleicht nur aus dem Gefühl heraus, dass eine Mutter verpflichtet ist, ihr Kind auf alle Möglichkeit der Glücksfindung aufmerksam zu machen, denn meine Ablehnung verstand und respektierte sie ohne Überraschung und Widerstand.
    
    Selbst meine Mutter war für mich ein Buch mit sieben Siegeln gewesen, was ihre Emotionalität und Denkweise anbetraf. Was unser Verhältnis aber bestimmte, war außer der Zuneigung, die ich sicher für sie hatte, auch und gerade die Tatsache, dass sie vieles von dem verkörperte, was ich als wünschenswerte Charakterzüge und Zeichen menschlicher Größe sah.
    
    Selbstlosigkeit, eine unfassbare Härte sich selbst gegenüber, ein disziplinierter und rigoroser Umgang mit Alltag und Verpflichtungen, eine strukturierte und klare Handlungsweise, jederzeit durch ihre Regelmäßigkeit nachvollziehbar. Die einzige Frau in meinem Leben, die ich also nicht hundertprozentig verstand, aber mit der ich gefahrlos und sicher umgehen konnte.
    
    Also, ein Untermieter. Es hieß mehr als nur das Zimmer zu vermieten, und die anderen Räume wie Küche und ...
    ... Bad, aber vermutlich auch das Wohnzimmer mit einer fremden Person zu teilen. Gemeinschaftliches Leben war mir schließlich von der Bundeswehr alles andere als fremd. Hier aber hieß es, der anderen Person einen direkten Zugang zu meinem privatesten, tatsächlichen Leben zu gewähren.
    
    Standen vielleicht Kompromisse wie die Wahl der gemeinsam zu schauenden Fernsehsendungen, unter Umständen gemeinsame Mahlzeiten an, ein logistisches Vakuum, das es zu füllen galt, würde entstehen. Mit einem Mann konnte ich mich sicher arrangieren. Die Idee begann mich zu elektrisieren.
    
    Vielleicht bekam ich einen weisen alten Mann als Hausgenossen, mit dem ich über Philosophie und Kunst diskutieren konnte, oder über Fußball, oder Literatur? Oder sogar Frauen? Nicht nur Bücher sind aus zweiter Hand wertvoll, auch und gerade die Erfahrungen anderer.
    
    Ja, und wo und wie fand man solche idealen Zeit- und Hausgenossen? Nach kurzer Überlegung entschied ich mich, die kostengünstige Herangehensweise anderer zu kopieren und einen Aushang mit abreißbaren Kontaktinfos zu verfassen. So weit, dass ich diesen an Verkehrsschilder und Litfaßsäulen platzierte wie manche, wollte ich allerdings nicht gehen.
    
    Mein Antiquariat und der nahe Supermarkt erschienen mir als ausreichende und erfolgversprechendste Standorte für mein Angebot, also bereitete ich zwei entsprechende Zettel vor. Hängte einen davon unverzüglich bei meiner Arbeitsaufnahme auf, ohne dass er an diesem ersten Tag auch nur von irgendjemandem ...
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