1. Joes kleine Meerjungfrau


    Datum: 12.07.2019, Kategorien: Sonstige, Autor: Dingo666

    ... "Kannst... du es mir zeigen?"
    
    "Wenn du möchtest."
    
    Mit einem tiefen Durchatmen beugte er sich vor, nahm sie locker in den Arm. Sein Bart strich sanft über ihre Wange, in der Andeutung einer Umarmung.
    
    "Mhh!"
    
    Eine Hand legte sich fest um seine Schulter. Ihr Schwanz platschte im seichten Wasser und schlang sich um sein rechtes Bein. Er verhielt, abwartend. Das fühlte sich an wie eine dünne, etwas unterkühlte Frau im Arm. Ihre Haut roch schwach nach Salz und nach Horizont. Überhaupt nicht nach Fisch.
    
    Sie drückte ihr Gesicht an ihn, rieb sich fester an seinem Bart. Er hörte, wie sie schluckte und tief Luft holte. Dann löste sie sich zögernd und entrollte den Schwanz wieder. Er wich langsam zurück. Sie sah ihn aus ernsten Augen an. Zwei große Edelsteine, die von innen zu glimmen schienen.
    
    "Das ist... ungewöhnlich", sagte sie halblaut. "Jetzt verstehe ich es."
    
    "Was?"
    
    "Die Geschichten der Alten." Sie verschränkte die Arme vor dem Leib, schien zu frösteln. "Da ist immer nur davon die Rede, wie sich ein Mensch und ein Meermensch verlieben. Meistens ein Menschenmann, und eine Meerfrau. Selten andersrum - eure Frauen fahren ja selten zur See. Ich habe mich immer gefragt, warum die sich verlieben? Sollten sie nicht schockiert sein? Angst haben voreinander? Fliehen?"
    
    "Nun ja, vielleicht ist es der Reiz des Ungewöhnlichen", schlug er vor und lächelte sie an. "Ich finde es jedenfalls sehr interessant, mit dir zu sprechen. Und - dich zu umarmen."
    
    "Hast - du dich ...
    ... etwa in mich verliebt?" Sie starrte ihn an, offenbar zutiefst erschrocken.
    
    "Nein, keine Angst." Er tätschelte beruhigend ihren Schwanz, an der Stelle, an der er einen Schenkel gewohnt war. "Ich bin noch völlig baff darüber, dass es überhaupt Meerleute gibt. Du bist die erste eurer Art, die ich treffe."
    
    "Das ist gut." Sie lächelte erleichtert.
    
    "Warum?"
    
    "In unseren Geschichten führen diese Lieben immer ins Unglück." erklärte sie, als müsste sie ihm die Schwerkraft erläutern. "Das bekannteste Gedicht heißt "Der Prinz und die Maid", es ist hunderte von Jahren alt. Wir müssen es auf der Schule auswendig lernen. Alle."
    
    "Spannend. Wovon erzählt es?" Ein wenig über alte Lieder zu plaudern, würde sie hoffentlich beruhigen.
    
    "Es beginnt so." Sie rückte sich zurecht und deklamierte:
    
    "Ein stolzes Segel, großes Schiff Ein geschmeid´ger Prinz späht aus Die schöne Maid mit langer Floss´ sie kommt aus gutem Haus"
    
    Sie zögerte. "Das Gedicht ist ziemlich lang, und ich habe es nicht mehr vollständig im Kopf. Jedenfalls endet es mit diesen Zeilen:"
    
    "Der Morgen kommt, die Sonne steigt sie findet beide tot in blinden Augen spiegelt sich ein feurig Morgenrot
    
    Mit seiner Lieb, mit seiner Kraft, hat er sie elend umgebracht Und ihrer Sehnsucht fester Griff zieht ihn in ew´ge Nacht"
    
    Sie endete mit einem bedeutungsvollen Blick.
    
    "Puh", lachte er unbehaglich. "Das klingt nicht gut. Eine drastische Warnung."
    
    "Ja, das wird uns eingebläut." Sie starrte vor sich hin. "Immer ...
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